Venedig – Das Skizzenbuch


Friedrich Karl Waechter, Venedig. Das Skizzenbuch. Mit einem begleitenden Essay von Ulrich Schneider und einer Nachbemerkung von Cornelia Volhard-Waechter. Zürich, Diogenes, 2011, 150 pp. [Fadenheftung] ISBN 978-3-257-02099-1 34,90€
Rezension von/Note de lecture (en allemand) de Peter Ronge

Das schön gestaltete Buch enthält von Seiten 9 bis 147 auf jeder rechten Seite und zwei linken insgesamt 72 « Skizzen », deren – wenn überhaupt vorhandene – dezente Farbigkeit ebenso wie Waechter’s Beschriftung und/oder Datierung sowie genaues Aussehen des verwendeten Papiers und Einbands aufwendig reproduziert sind. Auf den jeweils linken Seiten 8 bis 146 findet sich – außer pp. 102 und 104, die auch Skizzen zeigen – jeweils Ulrich Schneider’s kommentierender Essay-Text, der leider Kritisches zu fragen und zu sagen erfordert: (1) Muß dieser reputierte Kunsthistoriker, Archäologe und frühere Frankfurter Museums-Chef als Kommentator eines Nachlaßwerks des durch Tod wehrlos gewordenen genialen Zeichners Friedrich Karl Waechter seinen fraglos für die Leser allein schon wegen genauer Kenntnis Venedigs nützlichen Text mit einer eitel anmutenden Selbstinszenierung beginnen, die da lautet: « Ein zünftiges Malerbüchlein liegt mir vor […]. Cornelia Volhard-Waechter hat mir dieses Skizzenbuch […] gezeigt und mich damit sofort begeistert. » Und kann die fast durchgehende Präsenz von Elementen dieser Selbstinszenierung des Essayisten Waechter’s Bildern förderlich sein? (2) Bieten die zarten, oft geradezu minimalistischen Skizzen den Augen und dem kulturellen Gedächtnis der Betrachter nicht Material und Genußmöglichkeiten genug, daß der Kommentator wie sein Leser auf ständige verbale Doppelungen verzichten möchte wie z. Bsp. p. 58: « Jetzt ist es der Hund, der alle Aufmerksamkeit auf sich zieht, mit seinem roten Ball und den Folgen. » Denn daneben sieht der Betrachter unter des Zeichners Text: « Jetzt ist der Ball hin! 3.1.99 » einen braunen Hund in einen schon fast luftleeren roten Ball beißen, dem noch Waechter’s Notiz: « Er bekam 3x auf den Hintern von Frauchen » folgt? Sollte (3) ein Venedig-Fachmann nicht, statt wild-groteske verbale Spekulationen über im Bild resolut abwesende Fahnen und Mohren anzustellen, den Leser nicht darüber aufklären können, daß der Campo Bandiera e Moro dem Gedenken zweier adeliger Brüder namens Bandiera und ihres Mitstreiters Domenico Moro gewidmet ist, die im 19. Jahrhundert als Freiheitskämpfer im italienischen Süden von bezahlten Killern ermordet und, in die Heimatstadt überführt, dort beerdigt wurden? Müssen dem Leser (4) wirklich Schneider’s sexuell-ökonomische Mutmaßungen über das p. 62 als « abhäng[end] » ausgemachte « einsame Pärchen » zugemutet werden, es wolle « [v]ielleicht […] gerne ins Hotel Residenza gehen […]. Ist mit vier Sternen aber wohl zu teuer. [sic!, p. 64]? Hätten ein paar kunsthistorisch fachkompetente Worte über den Palazzo Badoer den Leser hier nicht reicher beschenkt?

Ich beschränke, um auf die Bilder eingehen zu können, die noch lange Liste meiner Einwände auf diese vier Beispiele mit dem gemeinsamen Dritten: es herrscht mutwillig-assoziative Selbstdarstellung des Kommentators vor, wobei seine fraglos große kunst- und stadthistorische Sachkunde ebenso mutwillig ausgespart scheint. Das literarische Genre des Essays hat den großen Vorteil, seine Autoren vorab nicht auf bestimmte Strukturen festzulegen; dies darf m.E’.s aber nicht dazu führen, daß ein die Bilderfolge des Skizzenbuches « begleitender Essay » (so im Buchtitel, p.3) sich darauf beschränkt, auf den Bildseiten Sichtbares tautologisch zu beschreiben oder bei venezianischen Orts- oder Gebäudenamen zurecht oder unsinnig Assoziiertes dem Leser als « Gelehrtenwissen » andienen zu wollen. Deshalb vermag ich auch Frau Volhard-Waechter’s schmeichelhaftes Urteil, es handle sich um einen « wunderbaren, poetischen, kenntnisreichen und liebevollen Text » nicht zu teilen, so sehr ich mir und anderen Lesern das gewünscht hätte.

Viel lieber würde ich Cornelia Volhard-Waechter’s Attribute mit ihrer – nicht eingeholten – Erlaubnis auf die wunderbaren, poetischen, kenntnisreichen und liebevollen Zeichnungen ihres Mannes übertragen wollen, von denen ich jetzt sprechen möchte. In ihrer Nachbemerkung berichtet sie, daß bei der winterlichen Venedig-Reise vom 2. bis 5. Januar 1999 (p. 7) eher ausnahmsweise der Zeichner (« Fritz ») seine Frau (« Nole ») zu einem Kongreß begleitete. Die vier Tage verbrachten beide mit ihrer verschiedenen Arbeit an unterschiedlichen Orten, um sich abends zu berichten. Seine, W’.s Ergebnisse enthält das offenbar vollständig reproduzierte Skizzenbuch, dessen Datierungen erkennen lassen, daß er vom 2. bis 5. Januar je 22, 14, 15 und 21 Skizzen fertigte, die sich auch hinsichtlich ihrer Sujets leicht kategorisieren lassen. Etwa 45 Zeichnungen gelten nur oder überwiegend landschaftlich-architektonischen Ansichten der Stadt, etwa 19 entwerfen eine oder mehrere Personen in Vorder-, Seiten- oder Rückansicht. Nur je 5 mal bildet der Zeichner Tiere (Tauben, Hund, Möwe) und seine wechselnden Tische in den Kaffeehäusern Lavena (p. 41) und Florian (p. 73) jeweils mit Tuschkasten ab, in der Trattoria da Paolo (p. 79) und am Campo S. Sofia (p. 81) jeweils mit Pinsel und schließlich ohne Ortsangabe (p. 87): Tuschkasten auf Tisch, wobei dieser auf seiner leichten Schultertasche liegt. Nach anfänglichem Bier und Kaffee bekehrt er sich dann zu dreimal Rotwein. An einer ungeduldigen Notiz W’.s ist die wichtigste Funktion der Gasthäuser zu erkennen: Nole kommt und kommt nicht (p. 73): sie sind Warte- und Treffpunkte bei Winterwetter, die Tische mit Getränken und Arbeitsgerät vertreten gewissermaßen den wartenden Künstler selbst.

Die wenigen « Tierbilder » gelten den unübersehbaren Tauben an Fassaden (p.55), auf Plätzen (p.67) und mit überragend-minimalistischer Könnerschaft in 8 Einzelskizzen (p. 83). Die Dynamik des soeben auf den Ball gesprungenen Hundes ist noch aus der Beinstellung ablesbar (p. 59), die rein virtuelle der ruhig schwimmenden Möwe (p. 127) aus ihren eleganten schwarzen Flügelspitzen und ebensolchem roten Schnabel.

Unter den Personenbildern seien zunächst die des Paares genannt: der von den Armen und Händen nahezu ganz umrundete Torso der Dame mit energischem, fast in sich gekehrtem Halbprofil ist mit wenigen Strichen entworfen und unlaviert (p. 77), während das Selbstporträt des Linkshänders mit Lockenkopf und Brille diesen (p. 97) vor seinem rechts gehaltenen und zur Arbeit mit der Feder weit geöffneten Buch zeigt. Der nur mit 7 Strichen angedeutete Mantel im Mittelbereich wird durch die dunkle Lavierung zur schützenden Hülle. Für alle 19 Personenskizzen gilt, daß der Zeichner jeden unnötigen Strich geizig zu vermeiden scheint, oft auch die Lavierung einspart und dennoch mit dem Minimum an aufgewandten Bildmitteln, was Gesichts- und Körpersprache der Personen angeht, sehr expressive Strukturen erzielt, immer zusätzlich ablesbar an der wuchernden Fantasie des Kommentators.

Fast zwei Drittel des Corpus gelten der Abbildung von Stadt-, Gebäude-, Platz- und Uferansichten Venedigs und dominieren die Produktion des ersten wie letzten Arbeitstages mit insgesamt 39, wohingegen am zweiten nur 7 oder 8 und am dritten – als Schwerpunkt der (12 von 15) Menschendarstellungen – kein einziges « Landschaftsbild » entstanden ist. Ufer und weite Flächen erscheinen – besonders am 4. Tag – bevorzugt im Querformat, während Gebäude(teile) mit allen Vorteilen perspektivischer Differenzierung eher hochkant konzipiert sind. Die lineare strukturgebende Gliederung all dieser Zeichnungen wird mit der Feder oder unterschiedlich dickem Stift erzeugt, Flächen und Massen meist mit dem Tuschkasten, wobei zwischen einer und sieben Wasserfarben überwiegend in zarter, seltener in kräftiger Farbintensität aufgebracht sind.

Fast alle 72 Skizzen sind sehenswerte kleine Kunstwerke und Herausgebern wie Verlag gebührt der Dank aller Bewunderer Waechter’s für die posthume Veröffentlichung
Peter Ronge (Telgte)