Wenn Pomeranzen in einen Turban fallen


Artikel von Alain Deligne über den Karikaturenstreit
WENN POMERANZEN IN EINEN TURBAN FALLEN. DER KARIKATURENSTREIT ZEIGT DIE IGNORANZ GEGENÜBER IKONOGRAPHISCHEN CHIFFREN, VOR ALLEM ABER GEGENÜBER DER TRADITION AUFKLÄRERISCHER KRITIK.

 

 

 
Der Streit über die Karikaturen des Propheten Mohammed schwelt weiter: davon zeugt in jüngster Zeit das Bombenattentat auf die dänische Botschaft in Pakistan. Kurt Westergaard, der Urheber der umstrittensten Karikatur – sie zeigte Mohammeds Turban als Bombe mit einer brennenden Zündschnur – musste sich besonders bedroht fühlen: er wurde verfolgt und musste schon mehrmals umziehen. Trotzdem sagte er vor kurzem, er würde es wieder machen, denn eigentlich habe er nur seine Arbeit gemacht. Sein Beruf verpflichte ihn dazu, die Meinungsfreiheit zu verteidigen, er stehe „ohne Wenn und Aber“ zu seiner Zeichnung. Dies ist allerdings nicht Ausdruck verbohrten Trotzes, sondern das Bewusstsein, eine ikonographische Tradition zu pflegen, die jedoch außer manchen Dänen niemanden aufgefallen ist. Denn die Bombe im Turban ist keinesfalls tagespolitischer Polemik geschuldet sondern Anspielung auf eine Passage eines Stückes des dänischen Schriftstellers Adam Gottlob Oehlenschläger (1779-1850). Das Drama heißt Aladdin [sic] eller den forunderlige lampe und erschien 1805 in Kopenhagen (deutsch: Aladdin [sic] oder die Wunderlampe. Ein dramatisches Gedicht in zwei Spielen, Amsterdam, 1808), ja auf eine Redewendung, die hier inszeniert wird: „Eine Orange im Turban haben“ bedeutet im Dänischen spätestens seit Oehlenschlägers Stück so viel wie „Glück haben“.

Westergaard versteht seinen Beruf als politische Provokation, die sich jedoch auf klare Traditionslinien bewegt: Er ist professionell in dem Sinn, dass er wie ein Handwerker nach alten Mustern arbeitet. Das im deutschen Kontexte eingängigste solcher Muster ist vielleicht John Tenniels „Dropping the Pilot“, erschienen 1890 im Punch. Das Bild, zu deutsch: „Der Lotse geht von Bord“, kommentiert die Entlassung Bismarcks, indem es den „eisernen Kanzler“ als Lotsen zeigt, den der Kaiser Wilhelm II. von Bord weist. An dieser Karikatur fällt auf, dass hier „kein Bauch zu dick, keine Nase zu lang“ ist, wie man es üblicherweise von der Karikatur erwartet. Wenn man sich an die Etymologie des Wortes „Karikatur“ hielte – Karikatur leitet sich vom italienischen caricare = „beladen, übertreiben“ ab –, läge gar keine Karikatur vor. Der entscheidende Punkt an dieser Zeichnung besteht aber in etwas ganz anderem, nämlich der Konkretisierung der politischen Situation in dem Bild des Lotsen, der das Schiff verlässt. Erst diese Art von Übertragung, das Wörtlichnehmen einer Redensart, macht die Zeichnung zur Satire. Die ganze politische Situation wird dadurch veranschaulicht und zugleich verfremdend travestiert. Der Staat ist das Schiff und Bismarcks Entlassung wird als „Abstieg“ zugleich konkretisiert und karikiert.
Im Prinzip verfährt die Zeichnung von Westergaard genauso. Der französischen Zeichner Gotlib hat sogar behauptet, diese Zeichnung sei nicht einmal eine Karikatur, da man nur die Lunte weg zu radieren brauche, um eine ganz normale Zeichnung zu erhalten. Tatsächlich sind die Gesichtszüge von Mohammed kaum verzerrt. Allenfalls die Augenbrauen sind zu buschig. Der scheinbar einfache und bescheidene Stil dieser Zeichnung sollte uns aber nicht den Blick auf die eigentliche Dimension dieser Zeichnung versperren, nämlich die Abweichung von dem Normalverständnis der Redensart, die konkretisierende Verfremdung. In Westergaards Zeichnung geht es gerade nicht um die Übertreibung der physischen Züge einer Person, sondern um das Wörtlichnehmen eines sprachlichen Bildes. Um welches Bild es sich hier handelt, ist allerdings außer den Dänen so gut wie niemandem aufgefallen.
Abgesehen davon, dass der Schauplatz von China nach Isfahan verlegt worden ist und dass der Autor ein paar Genrebilder hinzugefügt hat, entwickelt sich die Handlung im großen und ganzen so, wie sie Scheherazade in Tausendundeiner Nacht erzählt und wie Oehlenschläger sie aus der französischen Adaption des Orientalisten F. Galland kannte (Les Mille et Une Nuits, 1704-1717). Im ersten Akt wohnen wir allerdings einer Straßenszene bei, die vom Autor frei erfunden wurde. Aladin und ein paar andere Jungen nehmen an einem Spiel teil. Ein Kaufmann wirft aus einem Fenster drei Pomeranzen. Der begabte Aladin fängt nicht nur die erste auf, sondern auch die zweite. Immer sei er der Glückliche, klagen die anderen Jungen und halten ihn fest, damit er nicht mehr mitspielen kann. Aber das Glück bleibt ihm treu, auch die dritte Pomeranze landet direkt in seinem Turban.
Diese der dänisch-arabischen Phantasie entsprungene Variante des „Hans im Glück“ hat sich seitdem im kollektiven Gedächtnis der Dänen verankert. Westergaard kommentierte seine Zeichnung kürzlich so: „Gemeint war: Es ist gut, eine Orange in seinem Turban zu haben. Es ist schlecht, stattdessen eine Bombe darin zu haben“ (Le Monde vom 04/04/2008). Was also als augenzwinkernde Anspielung gegenüber seinen Landsleuten gemeint war, ist dem Rest der Welt unverständlich geblieben. Die Formähnlichkeit der beiden runden Objekte, der Bombe und der Orange, hatte die Übertragung nahe gelegt. Wie bei der Bismarck-Karikatur haben wir es mit einer Satire zu tun, die nicht in der Verzerrung des Aussehens einer Person, sondern in der Travestie einer Situation besteht.
Die Kreativität dieser Zeichnung kann man im Unterschied zur Verständlichkeit der Satire kaum in Frage stellen. Trotzdem wird auch jetzt noch wie kurz nach deren Veröffentlichung behauptet, diese Zeichnung sei, „belanglos“, „medioker“, „nicht besonders originell“, „nicht besonders treffend“, bzw. „nicht überspitzend“, „unterdifferenziert“ und deshalb „nicht aufklärerisch“. Lauter Äußerungen von westlichen Medienwissenschaftlern, Historikern, Schriftstellern, Islamologen, Philosophen, Theologen, Soziologen, die exemplarisch in Bernhard Debatim (Hrsg), Der Karikaturenstreit und die Pressefreiheit – The Cartoon Debate and the Freedom of the Press, LIT VERLAG, Berlin, 2007 zu finden sind.
Sollte es letztlich um das „Westen versus Islam“-Stereotyp gegangen sein, darf man sich doch wohl fragen, ob die gezogene Konfliktlinie immer so verlaufen ist und ob es nicht auch teilweise im eigenen Lager um den Westen gegen den Westen ging. Wurde nicht das kulturelle Erbe Dänemarks eben Opfer der Ignoranz des Restes des Okzidents? Und hier läge die Crux der sogenannten westlichen Haltung: auf die Frage, was wichtiger sei, die so häufig beschworenen Werte der Aufklärung oder jene der Religion, entscheidet man sich für die Aufklärung, gleichzeitig aber begeht man gerade dieselbe Art von Fehlern, die schon die Frühaufklärung am Ende des XVII. Jahrhunderts bekämpfen wollte.
Das Dictionnaire critique (1696) des Gelehrten Pierre Bayle hatte sich nämlich als Ziel gesetzt, solchen Phänomenen wie Einseitigkeit, mangelnder Wachsamkeit, Irrtum, Vorurteil, Voreiligkeit, Faulheit, Interesse, falscher Interpretation bei Schreibenden nachzustellen, sie zu sammeln und zu korrigieren. Ohne diesen kritisch-historischen Willen zur Sicherung von Tatsachen und Interpretationen wäre auch die spätere Entwicklung der Aufklärung unmöglich gewesen. Für Bayle ging es darum, sich nicht von den schon gefällten Urteilen beeinflussen zu lassen und jede Tatsache so zu untersuchen, als sei man der erste, der sie prüft. Auch auf der islamischen Seite wäre eine solche aufklärerische Leistung willkommen gewesen, denn es gab genug Fakten, die zu falschen Interpretationen führten. Hier bräuchte man nur die Fälschungen des so genannten Akkari Laban-Dossiers (2006) zu erwähnen, in der diffamierende Zeichnungen und Photos den 12 Karikaturen hinzugefügt wurden, was zweifellos nicht wenig zur Erhitzung des Konfliktes beigetragen hat.
Die ausgelöste Emotion war enorm und gewiss lag der Publikation der zwölf Zeichnungen eine provokatorische Absicht zugrunde. Der Chefredakteur der dänischen Zeitung Jyllands-Posten hatte das Recht auf freie Meinungsäußerung in einem demokratischen Land testen wollen. Dazu fühlte er sich motiviert, als aus Einschüchterung niemand sich getraut hatte, ein Buch des dänischen Jugendbuchautors K. Bluitgen über den Koran und das Leben Mohammeds zu illustrieren. Eine Einseitigkeit in der Einstellung der Zeitung zeigte sich dann allerdings 2003, als sie sich weigerte, entsprechende antichristliche Karikaturen zu veröffentlichen.
Zweifellos hat auch der Zeichner provozieren wollen. Vielleicht in der Art eines Picasso, der im besetzten Paris auf die Frage eines deutschen Offiziers, ob er „das“ – gemeint war das Bild Guernica (1937) – gemacht habe, schlagfertig geantwortet haben soll: „Nein, das haben Sie gemacht!“, eine Anspielung auf Hitlers Legion Condor, deren Flugzeuge die Baskenstadt bombardiert hatten. Westergaard musste jedoch, im Unterschied zu Picasso, um nicht in die Falle einer unterschiedslosen Schuldzuweisung zu laufen, immer wieder betonen, nicht alle Moslems hätten „das“ gemacht, sondern nur ein paar Fanatiker unter ihnen. Die satirische Zeichnung Westergaards ist also aufgrund der dargestellten Zusammenhänge nicht einfach das Bild Mohammeds als eines islamischen Terroristen, wie es auf den ersten Blick scheint.
Die Hintergründigkeit der Karikatur Westergaards ist aber kein Zufall. Die französische Journalistin Jeanne Delsaux hat mit Recht gesagt, eine Karikatur sei das Bild eines Bildes und ähnele darin der Schrift als Bild der Sprache; entsprechend müsse man diese Bilderschrift auch erst lesen lernen. Eine erste Hilfe beim Lesenlernen bildet die Unterscheidung zwischen quantitativer und qualitativer Interpretation
Die quantitative Interpretation stellt kein Problem dar. Sie würde das Bild etwa folgendermaßen lesen: Die ohnehin schon satirische Botschaft der Bilder wurde durch Hinzufügen der Photos noch verschärft und die zwölf Cartoons wurden zur Grundlage einer Hetzkampagne, die innerhalb von wenigen Tagen zu einer Massenhysterie führte.
Die qualitative Interpretation ist etwas komplizierter, denn sie erfordert die Unterscheidung mehrerer Bedeutungsdimensionen in einer Zeichnung, die jeweils unterschiedlichen Intentionen entsprechen. Mindestens drei Arten von Intentionen lassen sich unterscheiden: die des Werkes, des Lesers, des Autors.
Die Aussage des Werkes, wie sie allgemein gesehen wurde, war klar theologisch-politisch und besagte, dass der Islam, für den der Prophet hier pars pro toto steht, als Ganzes eine gewaltbereite, sogar kriminelle Religion sei. Dabei spielte es keine Rolle, dass Mohammed traditionell mit weißem Turban dargestellt wird, dass die Figur in der Zeichnung aber wie die Mullahs und Ayatollahs einen schwarzen Turban trägt. Diese polemische Intention des Werkes ist allerdings durch den Humor gefiltert. Über die sichtbare Provokation hinaus fordert der Zeichner damit zu weiterer Reflexion über den möglichen Hintersinn des Bildes auf. Das gelingt allerdings nicht, wenn die Attacke so stark schockiert, dass nur die Ablehnung als Reaktion übrig bleibt. So war es offenbar im Fall der radikalen Islamisten, aber erstaunlicherweise ganz ähnlich, wenn auch mit umgekehrten Vorzeichen, im westlichen Lager. In beiden Fällen dachte man nicht daran, nach eventuellen weiteren intentiones des Bildes zu fragen.
Die Gleichsetzung Mohammeds und der Mullahs kam einer von diktatorischen Regimes gewünschten Lektüre durch den Leser, d. h. einer Art von prädeterminierter Leserreaktion entgegen. Der sozusagen ferngesteuerte Leser sollte nämlich die Karikatur nur noch als ein diffamierendes Zerrbild seiner heiligen Religion sehen. Diese vorsätzlich falsche Lesart treibt viele Karikaturisten zur Verzweiflung: ihre Arbeit in zwei Registern – in dem des Bildes und dem des übertragenen Sinnes – verbietet es natürlich von selbst, das Bild auf nur ein Register zu reduzieren. Wenn man es dennoch tut, entzieht man ihrer Arbeit sozusagen die Geschäftsgrundlage.
Diese beiden Arten von Absichten sind von der des Autors zu unterscheiden. Westergaard ging es um eine Satire auf den Missbrauch von Religion, um die Entlarvung des Terrorismus im Namen des Propheten. Die verfremdende Darstellung in der Satire bewirkt, dass die Aufmerksamkeit vom Propheten Mohammed auf den Islam i. a. verschoben wird, der nach Meinung des Zeichners im Terrorismus missbraucht wird. Dies verstanden auch die Gemäßigten unter den Muslimen, die nicht über das Wissen um das dänische Sprichwort verfügten. Die Absicht des Autors zielt somit hier letztlich auf einen Leser, der zu einer sorgfältigen Lektüre in der Lage ist und dadurch die Botschaft des Textes realisiert.
Mit der Verformung des Kopfes des Bürgerkönigs Louis Philippe zu einer Birne erfand Philipon seinerzeit das bekannteste Symbol der Julimonarchie. Diese Darstellung wurde so oft wiederholt, dass die Birne zum Erkennungskürzel wurde, ja zu jeder Zeit zu reaktivierenden Chiffre einer sich selbst überlebenden Herrschaft – das zeigten die Kohl-Karikaturen der achtziger Jahre. Für die Dänen ist es eben eine Orange, welche diese kulturelle Funktion erfüllt, freilich mit anderem Inhalt. Davon zeugt noch eine weitere Zeichnung der dänischen Serie, eigentlich ein eher harmloser Cartoon. Er zeigt, wie die sprichwörtliche dritte Orange gerade in einem Turban landet, diesmal aber nicht in dem von Aladin, sondern – Verfremdung verpflichtet! – in dem des oben erwähnten Schriftstellers K. Bluitgen. Dieser hält in seiner Hand eine Kinderzeichnung von Mohammed. Das Glück, das die Orange bringt, ist in diesem Fall die zusätzliche Werbung für sein Jugendbuch!
Sehr gut passt zu diesen Reprisen der Begriff der Bildlore (analog zu Booklore), der für eine ethnologische Bildwissenschaft plädiert. Das Bild von Westergaard, wie das seines Kollegen, gehört tatsächlich zu dieser Art volkstümlicher Bilderkunde mit interkulturellem Hintergrund. Dazu passt auch das sich auf eine imaginäre Weise Annähern an dem Orient, fern von jeder strengen Beziehung zum Originaltext der Tausend und Eine Nacht.
Die Karikatur ist also eine Form der kulturellen Kommunikation. Dänemark hat eine lange Tradition der Satire, die jedoch nur solange lebt, wie die Bürger eines Landes diese Chiffren verstehen können – und wollen! Obwohl Jyllands-Posten das dänische Publikum (also Muslime inbegriffen) im Blick hatte, und dies zunächst nur auf Papier, hat der Karikaturstreit gezeigt, welche Macht und welche Möglichkeiten, aber auch welche ungewollten Wirkungen die Neuen Medien haben. Technisch gesehen gibt es keine lokale Leser mehr. Nicht desto trotzt erscheinen die kulturellen Bedingungen des Verstehens als sehr wichtig, denn einmal mehr kann man das Ganze als Missverständnisse in der kulturellen Interaktion beklagen. Solche Missverständnisse sind aber keine Fatalität, es sei denn man baut sie in das Szenario eines „clash of civilizations“ ein, das manche arabische Länder seit dem 11. September auch in ihr Verteidigungssystem perfekt integriert haben, und das jede Differenzierung und Kontextbedeutung zunichte macht.

Alain Deligne (Romanisches Seminar, Universität Münster)